Corona-Maßnahmen für die Psyche

Das vergangene Jahr war mehr als kräftezehrend – beruflich, privat aber vor allem auch psychisch. Der Berliner Psychologe, Moderator und Podcaster René Träder erklärt, welche Maßnahmen uns helfen können und was mit dem „Immunsystem der Psyche“ gemeint ist.

Die mentalen, emotionalen und körperlichen Reserven sind bei den meisten Menschen ziemlich aufgebracht. Was kann ich tun, um wieder neue Kraft und Hoffnung zu schöpfen?

Seit fast einem Jahr sprechen wir immer über Corona-Maßnahmen für mehr Hygiene. Ich empfehle allen Menschen, sich persönliche Corona-Maßnahmen für die Psyche zu suchen. Also Rituale, die ihnen dabei helfen, besser mit Ängsten, Frust und Hilflosigkeit umzugehen, und die gut für die psychische Gesundheit sind, die also dabei helfen, das Gute und Schöne wahrzunehmen, positiv zu denken, Kraft zu tanken und das Leben bewusst zu gestalten.

So wie wir nun schon reflexartig eine Maske aus der Tasche kramen, wenn wir in Bus und Bahn steigen oder in den Supermarkt gehen, sollten wir unsere psychischen Corona-Maßnahmen ebenfalls ganz automatisch machen. Es lohnt sich diese Maßnahmen an bestimmte Tätigkeiten oder Tageszeiten zu koppeln, damit man sie nicht vergisst. Bei den Maßnahmen selbst darf man neugierig experimentieren, klein anfangen und einfach mal schauen, welcher Unterschied dadurch entsteht. Das können Dankbarkeitsrituale sein, bewusste Auszeiten für sich allein, regelmäßiger Austausch mit anderen, körperliche Aktivitäten, meditative Erfahrungen, Momente der Reflexion, Schärfung der Sinne, etwas mit den eigenen Händen herzustellen, etwas zu lernen oder auch ein begrenzter und gezielter Medienkonsum.

Wichtig ist: Auch die Tage im Lockdown oder in einer Pandemie sind Tage unseres Lebens und gehören zu unserer Biografie dazu. Das Leben ist zu kurz und zu vielfältig, um auf die Zeit nach Krisen zu warten. Je unklarer das Außen, desto sinnvoller die bewusste Beschäftigung mit dem Innern. Je weniger klar die Zukunft ist, desto wichtiger ist die Konzentration auf das Hier und Jetzt.

Während Familien mit Kindern oder Paare zu wenig Rückzug haben, kämpfen viele Menschen, die alleine wohnen, mit Einsamkeit und Isolation. Wie kann ich mit diesen Gefühlen besser umgehen – und ab wann sollte ich mir Hilfe holen?

Hilfe kann man sich immer suchen. Ich möchte das gerne entstigmatisieren. Immer wieder höre ich von Menschen, dass sie gerne eine Psychotherapie machen wollen, aber finden, dass es sicher andere Menschen gibt, denen es vermutlich noch viel schlechter geht. Man muss nicht erst am Boden sein, um ein Recht darauf zu haben, Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sich Hilfe zu suchen, beginnt schon damit, dass man im Privaten oder im Beruflichen jemanden um etwas bittet, wenn man merkt, dass es einem zu viel wird oder dass man allein nicht weiterkommt. Es geht dann damit weiter, dass man vielleicht anonyme und kostenlose Telefonberatungen oder Onlinedienste nutzt.

Spätestens wenn man merkt, dass man überfordert ist, dass man antriebslos, geschwächt oder traurig ist, dass einem die Dinge keinen Spaß mehr machen, die man sonst gerne gemacht hat, dass man sich zurückzieht oder auch negative Gedankenschleifen oder selbstverletzendes Verhalten hat, ist es Zeit, Verantwortung dafür zu übernehmen und sich professionelle Hilfe zu suchen.

Aus meiner Sicht ist es kein Versagen, wenn man sich Hilfe sucht, sondern ein Zeichen von Stärke, wenn man offen mit der Schwäche umgeht. Und genau das ist vielleicht auch die Chance dieser Tage: In den letzten Monaten haben alle die Erfahrung gemacht, an eigene Grenzen zu kommen, und viele haben zum ersten Mal darüber gesprochen. Psychische Belastungen sind normal und sollten deshalb kein Tabu sein. Es ist wichtig, auf sich selbst und auf die Menschen im Umfeld zu achten.

Du hast ein Buch über Resilienz geschrieben. Das Wort stammt vom lateinischen „resilire“ ab, was so viel wie „zurückspringen“ oder „abprallen“ bedeutet. Ich muss sagen, dass ich mit dem Begriff Probleme habe, weil er signalisiert, dass schwierige Situationen einfach an einem abprallen, als hätte man eine stählerne Rüstung an …

Den Begriff Resilienz gibt es in verschiedenen Disziplinen. In der Physik wird damit beschrieben, wie belastbar ein Material ist, in der Ökologie geht es darum, wie ein System mit Störungen von Außen umgeht und bei der Städteplanung ist damit gemeint, was mit einem Ort bei Katastrophen passiert. Im Kern geht es bei Resilienz also immer um Widerstandsfähigkeit. In der Psychologie bedeutet eine hohe Resilienz zu haben, an den Belastungen nicht zu zerbrechen, sondern damit umgehen zu können. Resiliente Menschen übernehmen häufig schneller Verantwortung für ihre Situation und für ihre Bedürfnisse, sie denken eher konstruktiv und in Lösungen, kommen schneller mutig ins Handeln und bleiben auch bei Rückschlägen am Ball. Dadurch erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Dinge zum Positiven entwickeln bzw. finden sie einen Weg das Negative in ihrem Leben zu integrieren und trotz oder mit allem ein gutes Leben zu haben.

Auch für mich ist Resilienz keine Ritterrüstung. Und ich mag auch nicht das Bild vom Stehaufmännchen, das suggeriert, dass man, wenn man umgeworfen wurde, zack wieder aufsteht, als ob nichts gewesen wäre. Das Bild, das ich gerne nutze ist das Immunsystem der Psyche. Wir kennen alle das körperliche Immunsystem, das von Viren und Bakterien angegriffen wird. Das psychische Immunsystem wird von Stress, Krisen und Schicksalsschlägen angegriffen.

Wir alle haben ein Bewusstsein dafür, dass wir etwas für unser körperliches Immunsystem tun müssen. Genauso ist das auch bei unserem psychischen Immunsystem. Die Frage ist daher: Was ist mein Apple a Day für die Psyche?

Wie gelingt mir eine ausgewogene Balance zwischen Resilienz und Vulnerabilität. Oder anders gefragt: Wie schaffe ich es, Emotionen zuzulassen und anzunehmen, ohne mich von ihnen niederreißen zu lassen?

Resilienz und Vulnerabilität, also Verletzlichkeit, scheinen erst einmal Gegensätze zu sein, die sich ausschließen. Ich denke, dass das Gegenteil der Fall ist: Wenn wir in Kontakt mit unser Verwundbarkeit und mit unseren Wunden kommen, können wir stärker werden.

Emotionen haben zwei Funktionen: Sie haben eine Botschaft an uns und geben uns Energie zum Handeln. Es gibt keine negativen Emotionen. Emotionen können sich negativ anfühlen, es ist aber gut, dass sie da sind. Wenn wir an negative Emotionen denken, fallen uns schnell Angst, Wut und Trauer ein. Die haben jeweils andere Qualitäten. Die Angst weist und auf eine mögliche Gefahr hin und gibt uns die Energie, uns damit näher auseinanderzusetzen oder zu fliehen. Die Wut weist uns auf eine Ungerechtigkeit hin und gibt uns die Energie, für uns einzustehen. Die Trauer weist uns auf einen Verlust hin und gibt uns die Energie damit abzuschließen und nach vorne zu schauen. Daher ist es ganz wichtig, Emotionen zu akzeptieren und genau hineinzuspüren, statt die Emotion schnell wieder loswerden oder nicht spüren zu wollen. Und dann geht es darum, die Energie konstruktiv zu nutzen. Emotionen wollen unsere Resilienz also unterstützen.

In deinem Buch beschreibst du Krisen als „Chancen in Arbeitskleidung“. Was meinst du damit?

Krise ist immer eine Aufforderung, etwas anders zu machen. Wir Menschen mögen das Neue aber nicht, vor allem wenn es sich von Außen bemerkbar macht. Wir haben viele Strategien, die Warnsignale zu übersehen und überhören, zu verdrängen und einfach so weiterzumachen wie bisher. Dadurch wird das Thema aber immer lauter und sich auf verschiedenen Ebenen bei uns immer stärker bemerkbar machen. Wir neigen oft dazu, in eine passive Opferhaltung zu verfallen und schieben die Verantwortung ab.

Ich möchte den Menschen gerne Mut machen, sich mit der Krise bewusst zu beschäftigen und die Idee vermitteln, dass Veränderungen zwar oft nicht leicht umzusetzen sind, sich aber lohnen. Ich möchte, dass alle Menschen sich als Gestalter ihres Lebens betrachten. Das ist anstrengend und oft auch mit vielen Hürden, negativen Emotionen und Aktivitäten außerhalb unserer Komfortzone verbunden. Doch wenn wir diesen Weg gehen, können wir viel lernen und uns weiterentwickeln. Wir können uns selbst besser kennenlernen und eine Krisenkompetenz entwicklen, also eine Vorstellung davon, wie wir gut mit Negativem umgehen und was uns persönlich hilft und stärkt. All das müssen wir übrigens nicht alleine tun: Es gibt Therapien, Coachings, Selbsthilfegruppen, Onlineangebote und Beratungsstellen.

Rückblickend sagen viele Menschen „Wenn das damals nicht passiert wäre, würde ich heute nicht da sein, wo ich jetzt bin.“ Es wäre schön, wenn wir diese Zuversicht auch in dem Moment empfinden können, in dem wir die Lösung noch nicht haben. Wenn wir Krisen als Chancen in Arbeitskleidung betrachten, konzentrieren wir uns nicht nur auf das Bedrohliche, sondern glauben oder fühlen in irgendeiner Ecke unseres Körpers, dass das auch für etwas gut sein kann. Genau an diesem Punkt beginnt dann die Arbeit daran.

Du schreibst sehr humorvoll über die Themen Resilienz, Krisen und physische Erkrankungen. Weshalb hast du dich dazu entschlossen, das Thema auf diese Art und Weise darzustellen – und wie kann Humor dazu beitragen, leichter mit diesen Themen umzugehen?

Es gibt kein Leben ohne Probleme und Krisen. Sie gehören zum Leben dazu. Entscheidend ist einzig und allein, wie wir damit umgehen. Natürlich können wir von schlimmen Schicksalsschlägen betroffen sein, die unser Leben um 180 Grad verändern. Ich möchte solche Dinge keineswegs kleinreden. Mir ist eher wichtig, dass wir keine falschen Erwartungen ans Leben haben, dass wir uns stärker auf den Moment konzentrieren, dass wir bewusst leben und das würdigen, was ist. Das Leben ist oft nicht leicht, aber wir können es uns häufig leichter machen, ist mein Eindruck. Humor kann uns helfen, diese Leichtigkeit zu erleben, einen Perspektivwechsel zuzulassen und positiver zu denken. So kann Humor ein Faktor sein, der uns beim Aufbau von Resilienz unterstützt.

Dein Buch enthält viele praktische Übungen und ist fast eine Art Workbook. Oft überspringt man beim Lesen aber den Part, an dem man selbst aktiv werden muss. Warum sollte man die Übungen trotzdem machen?

Ich kenne das auch von mir selbst, dass ich beim Lesen Übungen gerne überspringe, weil ich glaube zu wissen, was diese Übungen bezwecken soll. Es ist allerdings ein riesiger Unterschied, ob man rein intellektuell etwas betrachtet oder ob man wirklich in die Situation reingeht und das Verstehen und Fühlen dann erlebt. Lass es mich mit einer Eis-Karte in einem Café vergleichen. Wenn ich mir die Fotos von den Eisbechern anschaue, habe ich eine Idee davon, wie lecker die sind. Vielleicht läuft mir sogar schon das Wasser im Mund zusammen. Das ist aber trotzdem eine völlig andere Erfahrung als tatsächlich das Eis zu essen und dabei die Kälte, die Konsistenz und die Aromen im Mund zu spüren.

Deshalb: Bitte nehmt Euch die Zeit, Übungen in Büchern zu machen und wirklich ins Denken und Fühlen zu kommen. Wenn man einen Ratgeber liest, geht es nicht darum, den so schnell wie möglich durchgelesen zu haben, sondern ihn durchzuarbeiten, für sich selbst etwas verstanden zu haben, um dann etwas anders sehen und machen zu können. Dafür sind Übungen unerlässlich. Traut Euch, in die Reflexion und ins Erleben zu kommen. Eine Übung zu überblättern, kann ja auch eine Art Selbstschutz sein, weil man befürchtet, dass Gedanken oder Emotionen einen überfordern.

Habt keine Angst davor. Tränen sind gut. Und vielleicht muss man auch gar nicht weinen, sondern kommt ins Lachen oder hat einfach nur einen erhellenden Aha-Moment.

René Träder ist Psychologe & Journalist. Seit rund 20 Jahren steht er für verschiedene Radiosender hinter dem Mikrofon. Darüber hinaus ist er auf YouTube aktiv und moderiert zwei Podcastformate zu den Themen Achtsamkeit und Gesundheit. Außerdem unterstützt er Einzelpersonen, Teams und Unternehmen in Rahmen von Coachings und Workshops.
Im Herbst 2020 ist im Ullstein-Verlag sein Resilienz-Buch „Das Leben so: NEIN!, ich so: DOCH! – Wie du besser mit Stress, Krisen und Schicksalsschlägen umgehst“ erschienen, in dem er acht Bausteine für ein stabiles Leben vorstellt.

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