Bücher-Highlights 2022

„Ich bin ein Teil von allem, das ich je gelesen habe“ sagte Theodore Roosevelt. Ein Zitat, in dem ich mich sehr wiederfinde. Bücher prägen, inspirieren und berühren uns. Nehmen uns mit auf eine Reise. Nicht jedes, nicht immer, aber wahrscheinlich macht genau diese Tatsache sie umso wertvoller. Aus diesem Grund mag ich es, gegen Ende des Jahres die vergangenen zwölf Monate auch literarisch Revue passieren zu lassen.

Emily Pine: Botschaften an mich selbst

Dieses Buch hat mich Anfang des Jahres durch eine schwierige Zeit getragen. Weil mich der Mut der Autorin aus Irland, sich verletzlich zu zeigen, beeindruckt hat. Und weil für mich genau darin die Kraft von Büchern und Literatur liegt: Über die Dinge zu schreiben, über die keiner spricht. (Oder nur wenige. )
Emily Pine macht genau das. Und sie macht es nicht in Form eines distanzierten Sachbuchs, sondern in persönlichen Essays, in denen es um Themen wie Geburt und Tod, Unfruchtbarkeit oder sexuelle Gewalt geht. Und befolgt damit das Zitat, das auf einem Zettel über meinem Schreibtisch klebt, ziemlich gut:„The thing you are most afraid to write. Write that.“

Auszug:
„Drei Jahrzehnte lang habe ich mit dem Schweigen gelebt, das die Periode als zu peinlich, zu unerwünscht, zu weiblich markierte, um laut darüber zu sprechen. Ich mache das schon so lange, dass ich es fast nicht mehr bemerke. Fast. Aber jetzt habe ich dieses Schweigen satt und auch die Geheimnistuerei und die verzerrte Vorstellung, Blut sei tabu, sobald es aus einer Scheide kommt. Weil es verdammt nochmal nicht gut genug ist. Zum Teufel mit dem Verstecken, zum Teufel mit der Scham, zum Teufel mit dem Stillsein. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich die prämenstruellen Spannungen, die starken Blutungen und die Krämpfe weggelächelt. Und die meiste Zeit meines Lebens waren die Blutungen sowohl physisch als auch emotional schmerzhaft. Und deshalb werde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr darüber schweigen. Ich werde es aussprechen, aufschreiben, vergießen. Blut wird nicht nur meine Tinte sein, sondern auch mein Thema.“

Marie Aubert: Kann ich mit zu dir? & Erwachsene Menschen

Die norwegische Autorin habe ich erst in diesem Jahr entdeckt und war sowohl von ihren Kurzgeschichtenband als auch von ihrem Roman begeistert.
Beginnen wir mit „Kann ich mit zu dir?“. Kurzgeschichten, Storys und Erzählungen sind auf dem deutschen Buchmarkt leider immer noch selten zu finden (aus Gründen, die sich mir noch nicht erschlossen haben und die ich nicht nur bedauere, weil ich selbst Kurzgeschichten verfasse). Da dürfte sich die deutsche Verlagswelt gerne mal ein Vorbild an anderen Ländern nehmen, in denen diese literarische Gattungsform sehr viel verbreiteter ist. Im Klappentext wird der Inhalt jedenfalls sehr treffend mit folgenden Worten beschrieben, die ich nur unterschreiben oder in meinem Fall wiederholen kann: „Wie können so alltägliche Storys über kleinliche, hässliche Gefühle so eine angenehm leichte Lektüre sein? Sie berühren und verletzen, und sind dabei so wunderbar subtil erzählt.“

Auszug:
„Wir verbringen schöne Abende bei ihr. Wir kochen und trinken Wein und haben Sex und schauen danach einen Film, es ist wie im Urlaub. Abgesehen davon, dass sie immer so einen Aufstand macht, bevor ich komme, sie räumt auf und saugt Staub, kauft teuren Wein und Rinderfilet und bemüht sich, locker zu wirken. Man sieht ihr viel zu deutlich an, wie sehr sie sich freut, und wenn ich morgens loswill, steht sie da und lechzt danach, dass ich etwas sage, woran sie sich klammern kann, sie müsse unbedingt bald Maja kennenlernen, wir sollten bald zusammenziehen. […] Am liebsten würde ich sagen: Du träumst davon, mit einem Kinderschläger eine Familie zu gründen.“

Kleinliche, hässliche, aber eben auch sehr menschliche Gefühle gibt es auch im Roman „Erwachsene Menschen“. Es geht um die Geschichte zweier Schwestern, die gemeinsam einen Urlaub verbringen. Die eine mit Anhang, die andere ohne. Was sie verbindet und gleichzeitig trennt: das Kinderthema. Die tickende Uhr. Und eine Rivalität, die immer deutlicher zum Vorschein kommt.

Auszug:
„Ist das der Moment? Ist das der Moment, in dem ich die große Gefühlsregung in mir verspüre, in dem ich begreife, dass ich das auf keinen Fall verpassen darf, weil das! ein viel zu großes Wunder ist, […] ist das der Moment, indem die Erkenntnis so unausweichlich wird, dass ich Olea sofort absetze und ins Haus gehe und mein Handy nehme und einen Termin bei der Storchenklinik in Dänemark vereinbare und unverzüglich aufbreche und mich aus einem Reagenzglas befruchten lasse, in das irgendein mir unbekannter Däne gewichst hat, und später zu den Leuten sage: In dem Moment wusste ich, ich muss es einfach tun.“

Bettina Flintner: Meine Schwester

Kann man das Schwere und das Leichte literarisch zusammenbringen?
Man kann. Oder eher: Bettina Flintner kann es. Denn sie schafft es, beides in diesem Buch zu verbinden und das Tragische und das Lustige miteinander zu verweben. Und so vom Suizid ihrer Schwester und ihrer Familiengeschichte zu erzählen.

Auszug:
„Da waren sie wieder. Die schwarzen Raben. Meine ganze Kindheit und Jugend über waren sie da. Sie kündigten sich nicht an. Sie näherten sich langsam, aber unaufhaltsam. Und dann waren sie da, ließen sich draußen auf den Bäumen nieder. Sie warteten, bis es soweit war. Und mit einem Schlag waren sie im Haus. Sie setzen sich überall hin, in die Küche, an den Esstisch, das Sofa. Sie waren im Flur, auf der Treppe und im Badezimmer. Sie saßen da, und blieben. Wie lange sie bleiben würden, wusste man nie. Einen Monat. Drei Monate oder länger?
Sosehr man sich auch bemühte, man konnte die schwarzen Raben nicht verscheuchen. Das konnte nur der Mensch, den sie umflatterten.“

Lisa Taddeo: Three Women/ Drei Frauen

Drei Frauen, drei Geschichten. Geschichten über Liebe und Verlangen, Lust und Leidenschaft, Sexualität und Gewalt – und den vielen Grauzonen dazwischen. „Männer werden dieses Buch lesen und bestürzt den Kopf schütteln, Frauen werden wissend nicken“, beschreibt es Sophie Passmann ziemlich treffend auf dem Klappentext. Ein Grund mehr, weshalb auch Männer dieses Buch lesen sollten.

Auszug:
„Manche Leute, denkt Maggie, leben ihr Leben, als wären sie ganz sicher, noch ein anderes zu bekommen. Noch eine Chance, um cool und beliebt zu sein oder klug und reich zu sein und immerzu Sex zu haben. Sie tun, als wäre es ok, sich in diesem Leben hängen zu lassen, sich dieses Leben nur anzusehen, als wäre es ein Film. Maggie ist streng katholisch und glaubt nicht an mehrere Leben. Und so ist sie fest entschlossen, das Beste aus diesem einen zu machen. Sie will alles erleben, will aber auch den Geboten ihrer Religion folgen. Darum hat es sie aufgebracht, als Melia ihr von der Schwangerschaft erzählte. Es ist nicht richtig, Sex vor der Ehe zu haben. Doch die kleine Emily ist frei von Sünde, so rein und strahlend wie ein Stern. Maggie kann sich nicht vorstellen, dass allein durch ihre Geburt schon Sünde an ihr haften soll. Vor allem jetzt, wo Dane und Melia denselben Nachnamen tragen. Außerdem haben sie einen Mixer. Nichts ist so katholisch und so verbindlich wie ein sauberer, weißer Mixer.“

Nicolò Targhetta: Alles spricht.

Die Protagonistin ist 30 Jahre, hat einen Job, einen Freund, eine Wohnung, eine Richtung im Leben – und kurze Zeit später hat sie nichts mehr davon. Und fängt an, mit den Dingen, die sie umgeben, zu reden. Oder reden die Dinge mit ihr?

Auszug:
„Hinterher sagt sie sie ihm. Sie diskutieren kurz, ob eine Tinder-Begegnung in eine gemeinsam verbrachte Nacht münden darf oder nicht. Am Ende entscheiden sie sich dafür. Also sagt sie sie ihm. Die Wahrheit. Nackt, ein Kissen im Rücken, die Arme am Körper ausgestreckt, den Blick starr geradeaus gerichtet, sagt sie ihm, dass sie nicht der Mensch ist, der zu sein sie behauptet hat. Dass sie einen Haufen Schwachsinn erzählt hat. Dass sie das schändlichste aller Verbrechen begangen hat: Lüge mittels einer Online-Dating-App. Sie sagt ihm, dass sie keinen Job, keine Wohnung und kein Selbstwertgefühl hat, dass sie mit freundlicher Genehmigung von Fluoxetin und Alprazolam unterwegs ist, dass es ihr schlecht geht. Schlimmer noch, dass es ihr gar nicht geht. Dass sie sich wie ein im Packeis gefangener Eisbrecher fühlt. Drinnen ist alles gut, solange die Vorräte reichen, doch draußen ist an Tauwetter nicht zu denken. Und von Rettung weit und breit keine Spur.“

Katja Kullmann: Die singuläre Frau

Ein unterhaltsamer und scharfsinniger Essay darüber, was es heißt, eine Frau ohne Begleitung in unserer Gesellschaft zu sein. Und der einen neuen Blick auf die alleinstehende Frau wirft – und sie als Heldin und singuläre Frau der Moderne feiert, ohne dabei die schwierigen Momente auszublenden oder zu beschönigen.

Auszug:
„Es war, als ob stets ein Programm mitlief, das mächtiger war als der jeweilige Mann und ich. (Nur die erste Liebe meines Lebens, die auf dem Schulhof begann, nehme ich von alldem aus.) Auf der einen Seite lief das Männerprogramm, auf der anderen Seite das Frauenprogramm, zusammengenommen ergab es das Paarprogramm. Es ist schrecklich enttäuschend, wirft auch kein gutes Licht auf mich, denn obschon ich stets versuchte, nicht die gleichen Fehler noch einmal zu machen, traf ich eben immer wieder auf Männer meiner Generation – Männer, mit denen ich so viel gemeinsam zu haben glaubte, die einerseits keine Paschas alter Schule mehr sein wollten, andererseits aber genau daran zu leiden schienen: dass sie keinerlei Entwurf für ihr eigenes Mannsein hatten. Während ich, die junge Frau, tatsächlich das meiste anders machte als meine Mutter, unterschied sich das Leben der meisten jungen bis mittelalten Männer nur in Nuancen von ihren Vätern. „

Lisa Olivera: Already Enough. A Path to Self-Acceptance

Das Buch der amerikanischen Autorin, die gleichzeitig auch als Therapeutin arbeitet, ist vielmehr eine Mischung aus Workbook und persönlichen Erzählungen. Im Buch erforscht Lisa Olivera, wie die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen (oder die uns erzählt wurden) unser Verhalten beeinflussen – und wie wir uns genau dessen bewusstwerden können.
Ein Buch, das dabei hilft, die eigenen Geschichten und Glaubenssätze zu hinterfragen, und Anleitung dafür gibt, die eigene Perspektive zu verändern. Im Gegensatz zu anderen Büchern geht es jedoch nicht darum, sich und sein Leben noch mehr zu optimieren und noch besser und erfolgreicher zu werden, sondern wird stets die Botschaft vermittelt, dass wir bereits genug sind, so wie wir sind. Dies vermittelt die Autorin auch immer wieder auf ihrem Instagram-Account, der ebenfalls erwähnenswert – und folgenswert – ist (_lisaolivera).
Das Buch ist bisher nur auf Englisch erhältlich.

Auszug:
„Every time he tried to tell me that he would stay, that I deserved him, that I wasn’t a mistake […] I remember feeling so frustrated. I wanted confirmation of my story so badly, even as it hurts. Finally, he yelled: „I’m not your birth mother. I am not leaving!“ I broke. I felt that phrase so deeply in my bones, yet no one had ever said it out loud, not even me. I carried my story of never-enoughness so deeply in my core that I’d projected it onto every relationship that I’d ever had. I think a lot of us do this: we form a belief about ourselves and then seek out proof whereever we can. It’s self-sabotage at it’s finest and, as I shared earlier, it isn’t our fault. It’s all we know at the time.“

Mehr Leseempfehlung findet ihr zum Beispiel hier. Was waren eure Lese-Highlights 2022?

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