Jahresrückblick 2020

2020, was für ein Jahr. Ganz zu Beginn habe ich einen Blogartikel darüber geschrieben, was wir von der Corona-Krise lernen können – und ihn dann letztendlich doch nicht veröffentlicht. Weil die Diskussionen bereits so hitzig waren und weil ich innerlich selbst schwankte zwischen „Diese Krise kann eine Chance sein“ und „Es ist ok, wenn einem gerade alles zu viel wird und man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist“. Denn oft muss man erst einmal durch den Schmerz, damit man ihn verarbeiten und heilen kann. Erst danach, wenn es vorbei ist, wenn es wieder besser ist, dann kann man die Chance und Möglichkeiten sehen, die darin liegen – und Dinge verändern.

Jan Lenarz von Ein guter Plan hat es in seinem Blogartikel „Krisen sind nicht immer Chancen: Warum wir erst mal heilen müssen“ ziemlich treffen auf den Punkt gebracht:

„Auf eine Krise folgt nicht automatisch Wachstum. Krisen bestehen erst mal nur aus Schock, Wut und Schmerz. Die Überwindung dieser Phase kann nur gelingen, wenn die begleitenden negativen Gefühle wahrgenommen und akzeptiert werden. Ich plädiere nicht dafür, dass wir nun eine Anstandswoche an Trauer einlegen, so funktioniert das auch nicht. Die beste Strategie für die Aufarbeitung von Schicksalsschlägen ist ein Wechselspiel aus Trauer und Ablenkung, Trauer und Hoffnung, Trauer und Neuorientierung. Aber eben nicht nur Ablenkung, Hoffnung und Neuorientierung.“

Jan Lenarz

Auch ich habe mich anfangs in die Idee geflüchtet, die Krise positiv beziehungsweise als Chance zu sehen. Vielleicht, um mich selbst zu beruhigen. Ich glaube, ich war vor allem aber erleichtert, endlich im Home Office arbeiten „zu dürfen“, auch wenn ich mir natürlich andere Umstände hierfür gewünscht hätte. Und ich hatte das Gefühl, dass es der Welt und Gesellschaft vielleicht mal ganz gut tut, wenn die Pause-Taste gedrückt wird.

Am Anfang war ich tatsächlich froh über die freiwerdende Zeit: Ich konnte meine Mittagspause außerhalb vom Büro gestalten, ich habe wieder an meinen Schreib- und Buchprojekten gearbeitet und hatte endlich Zeit, auch meinen Umzugswunsch anzugehen. Und was soll ich sagen: Ich habe tatsächlich in diesem verrückten Jahr eine Wohnung außerhalb von Potsdam gefunden, in unmittelbarer Nähe zur Natur und in Waldnähe, so wie ich mir das schon seit Jahren gewünscht hatte. 2020 hat für mich also durchaus auch positive Veränderungen herbeigebracht.

Aber dieses „Denk-positiv-in-der-Krise-und-nutze-die-freie-Zeit“ (die ja auch nicht bei allen frei ist), um eine Sprache zu lernen/ ein Buch zu schreiben/ all das zu machen, wozu du sonst nie kommst/ fill in the blank kann auch verdammt viel Druck erzeugen –  und den kann man in einer Krise so gar nicht gebrauchen.

Was viel zu wenig gesagt wird: Es ist vollkommen ok, das alles nicht zu tun.
Es ist ok, einfach damit beschäftigt zu sein, mit der Krise klarzukommen (und das gilt nicht nur für die Corona-Krise).
Du schaffst es, deinen Alltag zu wuppen? Das ist super!
Du kriegst es trotz allem hin deiner Arbeit nachzugehen? Respekt.
Du schaffst nichts davon? Auch vollkommen ok!

Manchmal muss man sich diese Dinge auch selbst sagen, denn während man bei Freunden und bei anderen oft das vollste Verständnis hat, wenn diese überfordert sind und Dinge „nicht schaffen“, legt man bei sich selbst leider meist ganz andere Perfektionsansprüche und -maßstäbe an.

Und womit wir wohl alle nicht gerechnet haben: Wie lange uns diese Krise beschäftigen würde. Und wie viel Kraft das alles kosten würde.

Mein aktueller Energiezustand zum Jahresende (und wenn ich ehrlich bin, auch schon weit, weit davor): die Akkus sind leer. Ich bin krass erschöpft.
Auch den Umzug während einer Krisenzeit habe ich ziemlich unterschätzt: Nun hatte ich zwar die langersehnte Natur, aber dafür musste ich mir Schritt für Schritt wieder ein soziales Netz aufbauen – und das zu einer Zeit während Kontaktverbote und diverse Einschränkungen herrschen. Davon abgesehen, dass Umzüge so oder so verdammt anstrengend und kräftezehrend sind. Und gerade als ich erste Kontakte und zarte Freundschaften geknüpft hatte und auch einen Ort zum Tanzen gefunden, da kam der zweite Lockdown – hello again.

Home Office & der Unterschied von Alleinsein und Einsam sein

Prinzipiell kommt mir das Arbeiten von Zuhause entgegen, ich kann besser arbeiten und fühle mich nicht so ausgelaugt wie nach einem Tag im Büro. Allerdings besteht ein großer Unterschied zwischen „normalem“ Home Office und „Home Office während einer globalen Pandemie“. Denn es macht einen ziemlich großen Unterschied, ob du von Zuhause arbeitest und abends Freunde treffen und am Wochenende Dinge machen kannst, die dir gut tun – oder ob all diese Dinge auf einmal wegfallen (und man nicht weiß, wann sich dieser Zustand wieder ändern wird).

Ich bin ein Mensch, der viel Zeit für sich braucht, der gut mit sich allein sein kann und der mehrmals monatelang alleine durch fremde Länder gereist ist. Aber ich kann definitiv sagen, dass ich mich noch nie so einsam gefühlt habe, wie in diesem Jahr. Einsamkeit, das hat nicht nur die Senioren in den Altenheimen getroffen, sondern auch viele junge, alleinlebende Menschen. Das hat mir in den Diskursen oft gefehlt.

Ich habe das Glück, viele tolle und großartige Menschen und Freunde in meinem Leben zu haben, die in ganz Deutschland und auf der ganzen Welt verteilt leben und mit denen ich in diesem Jahr über Whatsapp, Face-Time, Skype und Zoom Kontakt gehalten habe – aber das alles kann nicht die realen Begegnungen mit echten Menschen ersetzen. Weil keine Online-Messaging-Dienst und keine Online-Kommunikations-Plattform der Welt eine Umarmung, ein Lächeln oder den Blick in die Augen eines anderen Menschen ersetzen kann.

freedom is the oxygen
of the soul

Moshe Dayan

Was ich dieses Jahr wieder einmal mehr erkannt habe: Wie wichtig mir Freiheit, vor allem die räumliche und die Reisefreiheit, ist. 2020 war glaube ich das erste Jahr, in dem ich kein neues Land bereist habe, keinen neuen Ort entdeckt habe (abgesehen von den vielen schönen Orten in und außerhalb von Potsdam, die natürlich auch zählen), aber dieses Gefühl, nicht mal eben nach München zu fahren und Freunde zu besuchen (oder es wenn mit schlechtem Gewissen zu tun) oder irgendwo hin reisen zu können, das hat was mit mir gemacht. Das Reisen; das Entdecken von neuen Städten und Ländern; generell neue Erfahrungen zu machen, das sind die Momente, in denen ich mich  am lebendigsten fühle und am meisten mit mir selbst und der Gegenwart verbunden bin. Das habe ich in diesem Jahr enorm vermisst.

Aber ich bin auch dankbar, für all die Reisen, die ich bisher schon erleben durfte. Dankbar, dass ich mir hierfür immer die (Aus-)Zeit genommen habe und meine Träume nicht auf „irgendwann mal“ verschoben habe. Und irgendwie bin ich auch ein bisschen stolz, dass ich dieses Jahr überstanden habe (und das sollte eigentlich jeder sein!). Denn das ist der Vorteil, wenn man schon einmal eine Krise er- und durchlebt hat: Man weiß, dass es irgendwann auch wieder besser wird. Und man hat Strategien gelernt, die einen durch die schwierige Zeit tragen (oder sie zumindest erleichtern).

Und selbst in so einem verrückten, herausfordernden Jahr passieren positive Dinge. Wer es nicht glaubt, der sollte diesen Artikel auf Amazed Mag lesen (Spoiler: No Trump anymore!!).

Für alle da draußen, die in diesem Jahr hart zu kämpfen hatten, ihren Job verloren haben oder in andere Weise stark betroffen waren: Es ist ok, wenn 2020 einfach ein Scheißjahr für euch war.
Und auch für die, die es vielleicht nicht ganz so schlimm getroffen hat, die sich aber in diesem Jahr sehr oft sehr einsam, verloren und überfordert gefühlt haben: Auch das ist ok.

Denn wir sollten unserem Gegenüber niemals seine Gefühle abwerten, nach dem Motto: Sei doch dankbar und froh, dass du deinen Job nicht verloren hast/ du Single bist und keine drei Kinder nebenbei betreuen musst/ du nicht an Corona erkrankt bist. Niemand kann in einen anderen Kopf und Menschen reingucken. Und niemand sollte einem anderen Menschen vorschreiben, was er fühlen darf und was nicht.

Und: Wir sollten uns die Zeit nehmen, dieses Jahr zu verarbeiten. Zu reflektieren, was da überhaupt alles passiert ist. Oder um noch einmal Jan Lenarz zu zitieren:

„Wir können nicht einfach so weitermachen, als ob nichts wäre. Studien kamen immer und immer wieder zu dem Ergebnis, dass Menschen nur an Krisen wachsen, wenn nicht von ihnen gefordert wurde, sofort weiterzumachen wie bisher. Wenn sie Zeit hatten, ihr neues Leben von allen Seiten zu beleuchten und so zu neuen, positiven Glaubenssätzen gekommen sind. Und, wenn sie sich mit anderen über ihre Gefühle austauschen konnten. Freundinnen, Familie, Therapeutinnen: Menschen, die ihren Schmerz verstehen.“

Was wir aus 2020 lernen können

2020 war schwierig und herausfordernd. Aber es war nicht nur schlecht. Und was ich mir in diesem Jahr oft selbst gesagt habe: Es kann eigentlich nur besser werden. Und vielleicht können wir das eine oder andere aus diesem Jahr mitnehmen.

Vielleicht hilft uns diese Krise zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Vielleicht hilft uns diese Krise, wieder mehr mit unseren Gefühlen in Kontakt zu kommen. Eine Gesellschaft und eine (Arbeits-)Kultur zu etablieren, in der es ok ist zu sagen: Es geht mir nicht gut. In der es nicht als Stigma oder Schwäche ausgelegt wird, zu sagen: Mich überfordert das gerade alles oder Das ist mir zu viel.

Denn vielleicht sind wir nicht die Einzigen, denen es so geht. Vielleicht sind da draußen ganz viele Menschen, mit denselben Ängsten und vielleicht hilft uns diese Krise, endlich offen über diese Ängste zu sprechen. Vielleicht macht uns die Krise empathischer.

Und vielleicht führt das Jahr 2020 dazu, dass wir im kommenden Jahr und im Idealfall auch darüber hinaus all das wertzuschätzen, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben: Gesundheit, Gemeinschaft – und Normalität.

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